Individualisierung durch neue Lernortkonzeptionen: Qualitätsstandards für die berufliche Rehabilitation heute

Buchbesprechung „Individualisierung durch neue Lernortkonzeptionen: Qualitätsstandards für die berufliche Rehabilitation heute“, BfW Nürnberg 2011

Das Buch dokumentiert Ausgangslage, Begründung, Vorgehen und Erkenntnisse aus einem massiven Change-Prozess dem sich zwei bedeutende Berufsförderungswerke in Form eines 4-jährigen Modellprojektes gestellt haben. Ziel war es, die berufliche Rehabilitation von Menschen mit Behinderung zeitgemäß und zukunftsfähig neu zu gestalten und dabei eine durchgängige Prozesssicht einzunehmen. Der Anspruch im Projekt ist kein geringerer, als dem Menschen mit Behinderung zurück auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt Freiheit und Selbstbestimmung in seiner ganz individuellen beruflichen Rehabilitation zu ermöglichen.

Die Publikation folgt einem stringenten Aufbau und beginnt mit einer wissenschaftlichen Einordnung des Projektvorhabens vor dem Hintergrund aktueller sozial- und wirtschaftspolitischer Entwicklungen. Ausgehend vom Status-Quo wird die Zielsetzung definiert und in gesellschaftliche Metatrends eingebettet. Es wird von Anfang an klar, warum wo welcher Handlungsbedarf besteht. Im Hauptteil werden die Bausteine erläutert, die im Zusammenspiel die Rehabilitation der Zukunft ausmachen. Einen großen Teil der Bausteine nimmt die Konzeption und Erläuterung modularisierter und vernetzter Lernorte ein. Vor allem dieser Teil des Werkes liest sich wie ein Praxishandbuch von Menschen, die im jeweiligen beschriebenen Thema reich an Erfahrung sind. Hier liegt auch eine Besonderheit im Charakter des Buches: Die sehr gut aufeinander abgestimmten Kapitel stammen aus unterschiedlicher Feder. Jedes Thema ist demnach mit glaubhaften Ansprechpartnern versehen, deren Erkenntnisse und Rat sicher auch jenseits des Buches direkt abfragbar sind. Nach einer kritischen Reflexion und wissenschaftlichen Bewertung schließt der inhaltliche Teil mit einer Betrachtung der Kostenseite. Es bleibt bis zum Schluss klar, dass im Sinne einer gelebten Sozialen Marktwirtschaft die Kostenfrage in diesem Bereich eine Effizienzfrage nach dem besten “Wie” bleiben wird und niemals zum “Ob überhaupt” degenerieren darf.

Wohldosierte juristische Erläuterungen der handlungsleitenden Grundlagen bereichern die Ausführungen. Die gestalterisch gelungene “junge” Aufmachung des Buches macht Lust zu lesen und passt zum angenehm leicht zu lesenden Schreibstil. Die vielen gehaltvollen Grafiken machen das Wesentliche schnell erkennbar und erleichtern die Adaption der Erkenntnisse in die eigene Praxis. Eine wesentliche Stärke der Dokumentation ist die klar hörbare Stimme der Praktiker und am Reha-Prozess Beteiligten. Das Werk ist demnach mehr, als die bloße Darstellung eines Großprojektes. Vielmehr wird bei der Lektüre spürbar, welch große Adaptionsleistung die Projektbeteiligten im Dienste einer ganzheitlichen und vor allem individuell nachhaltigen Integrationsunterstützung vollzogen haben und welch hohe Wertschätzung dem Menschen mit seinen individuellen Gaben und eigenen Vorstellungen gelingenden beruflichen Lebens bei der Neugestaltung einer Rehabilitation der Zukunft beigemessen wird. Dennoch verharren die Ausführungen nicht im “Man könnte, sollte, müsste”, sondern zeigen klar einen ausgereiften und vor allem umsetzbaren State-of-the-Art-Ansatz auf, der es verdient, die Reha-Landschaft in Deutschland maßgeblich mit zu prägen.

Es ist gleichermaßen für Entscheiderinnen und Entscheider wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Reha-Landschaft ein großer Gewinn, von den dokumentierten Erfahrungen und Erkenntnissen des Modellprojektes profitieren zu können. Das Buch zeigt auf wie es gelingt, bei der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderung Gutes noch besser zu machen, Fehlendes zu ergänzen und dabei Effektivität und Effizienz im Blick zu behalten. Auch für den wissenschaftlich interessierten Leser ist die Publikation äußerst empfehlenswert, da die Publikation nicht zuletzt durch Fallbeispiele aus dem “echten Leben” Transparenz schafft, wie gewandelten Ansprüche an ein zeitgemäßes Reha-Modell ganz konkret begegnet werden kann.

Nachfrage nach vielen im Buch beschriebenen Ansätzen findet sich auch außerhalb des Reha-Bereiches z.B. in Personalabteilungen regulärer Unternehmen, beispielsweise wenn es um die Potenzialausschöpfung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht. Im Buch wird deutlich, dass die Berufsförderungswerke diesbezüglich – quasi als Nebenprodukt ihrer exzellenten Arbeit – einen Erfahrungsschatz hegen, der echte Standards setzt. Dies kann auch außerhalb des Reha-Bereichs Bildungsträgern und Unternehmen nutzen, ihr eigenes Qualifizierungsangebot und ihre eigene Personalarbeit mit Erkenntnissen aus dem Modellprojekt “querdenkend” zu bereichern.

Prädikat: 4 Jahre geronnene Erfahrung aus der Praxis – absolut empfehlenswert!

Rezension_Bolsinger_022012